Was das Naturphänomen WEILMÜNSTERER KIEFER von TRAUERWEIDE und HÄNGEBIRKE unterscheidet.

Was das Naturphänomen WEILMÜNSTERER KIEFER von TRAUERWEIDE und HÄNGEBIRKE unterscheidet.

Dipl. Biol. Peter Ulrich Zanger
CID Institut
24. September 2018



In einem forstlich genutzten Wirtschaftswald sieht jeder Einzelbaum so aus wie der Andere. Bäume wurzeln im Boden, bilden einen mehr oder weniger linear in die Höhe wachsenden Stamm aus, dessen Triebspitze sich exakt vertikal „nach Oben“ orientiert und eine sogenannte Krone, bestehend aus Seitenästen, die sich mehr oder weniger horiziontal bzw. ungefähr wagerecht und regelmässig vom Stamm hin nach allen Seiten ausdehnen. Die regelmässige Wuchsform von Pflanzen ein und derselben Art ist in den genetischen Informationsträgern in jedem Pflanzenbestandteil festgelegt und vorgegeben und wird während des Pflanzenwachstums durch biochemische Prozesse gesteuert, das heisst an die spezifischen Umweltbedingungen jeder einzelnen Pflanze an ihrem spezifischen Standort angepasst. So wächst der Stamm eines Baumes auf horizontal ebenem Untergrund etwa im 90 Grad Winkel zur Ebene des Bodens in die Höhe, an einem Steilhang wachsende Bäume regeln dagegen die Wuchsrichtung ihrer Stämme entsprechend der Hangneigung ein, so dass ihre Stämme fast parallel zum Untergrund stehen können.

Neben den genetischen Vorgaben für das Pflanzenwachstum bzw. die spezifische Wuchsform einer Pflanze sind die biochemischen Prozesse in der Pflanze, welche durch die PHYTOHORMONE (Auxine und Cytokinine) gesteuert bzw. geregelt werden und die multiplen, äusseren Einflussfaktoren, die sogenannten TROPISMEN bestimmend für das jeweilige vorübergehende oder endgültige Zustandekommen der Wuchsform eines Pflanzenkörpers. Das heisst, Pflanzen können im Laufe ihres Lebens beispielsweise ihre ursprüngliche Haupt-Wuchsrichtung ändern und eine untypische aber doch spezifisch an ihren Standort angepasste Wuchsform ausbilden. Bestimmende Haupt-Faktoren sind dabei die Konditionen der Licht-, Wasser- und Nährstoffversorgung am Wuchsort aber auch andere Umwelt- und Umgebungsfaktoren, die das „normale“ Pflanzenwachstum beeinflussen oder stören. Besonders anschaulich ist letzteres am sogenannten Torsions-Wuchs von Nadelbäumen an Extremstandorten ablesbar. Berühmt sind in diesem Zusammenhang im Hochgebirge und in Küstennähe permanenten Winden aus immer gleichbleibenden Himmelsrichtungen ausgesetzte Wacholderbäume und Kiefern, deren Stamm und Äste sich plastisch verformt und so an die externen physikalischen Störfaktoren angepasst haben.



Beispiel für durch physikalische Umgebungsfaktoren bewirkten Torsionswuchs eines Wacholderbusches an einem Extremstandort in Küstennähe mit vorherrschenden Dauerwinden aus immer ein und derselben Himmelsrichtung


Regulationsprozesse des Wachstums innerhalb einer Pflanze werden durch die Pflanzenhormone gesteuert. Diese bewirken unter anderem die Wuchsrichtung elementarer Pflanzenteile wie etwa der Sprossachse, der Seitentriebe und der Wurzeln bei den sogenannten Höheren Pflanzen. Dabei wirken die Phytohormone mit Umgebungsfaktoren wie beispielsweise Sonnenlicht und Schwerkraft zusammen, was bedeutet, das Pflanzen ein Nervensystem haben bzw. über Sinnesorgane verfügen, die in der Lage sind beispielsweise Lichteinfallsrichtung und -intensität zu messen, zu interpretieren und ihren Pflanzenkörper im Verhältnis zu diesen Parametern zu bewegen und einzuregeln oder die Richtung ihrer Wuchsachse im Verhältnis ihrer Wuchsposition zum Erdmittelpunkt anzupassen.

Die Phytohormon-Steuerung bewirkt so beispielsweise bei Bäumen, dass nicht jeder Spross senkrecht in die Höhe wächst und einen eigenen Stamm ausbildet sondern nur eine einzelne Hauptachse. Wird dieses Wachstum durch äussere Eingriffe gestört, übernehmen bisher horizontal wachsende Seitentriebe solange die vertikale „Hauptwuchsrichtung“ hin zum Sonnenlicht bis sich ein neuer Hauptrieb herausgebildet hat. Informationsträger ist dabei der Theorie nach das in der Triebspitze gebildete Phytohormon AUXIN welches in den Leitsystemen der Pflanze „herabtransportiert“ wird und das vertikale Wachstum anderer Sprossachsen unterdrückt, so dass diese sich zu horizontal wachsenden Seitenästen ausbilden. Dabei bewirkt das Phytohormonsystem eine unterschiedliche starke Nährstoffverteilung innerhalb des Seitenastes, so dass dessen Oberseite schneller weiter wächst als die Unterseite, was zur Folge hat, dass sich die alternative Baum-Sprossachse zur Seite krümmt. Dieses Phänomen im Nährstoffregulationshaushalt einer Pflanze wird in der Pflanzenphysiologie als „Apikale Dominanz“ bezeichnet.

Soweit erklärt in der naturwissenschaftlichen Theorie unser gegenwärtiger Kenntnisstand den pflanzenphysiologischen Regulationsmechanismus für den gleichbleibend regelmässigen aufrechten Wuchs unserer Bäume. Wie kommt es aber nun dazu, dass auch gänzlich unterschiedliche Baumwuchsformen existieren, wie beispielsweise der berühmte Solitärbaum einer Kiefer der Art Pinus sylvestris am Waldrand des Nordabhanges des Dietenhäuser Berges oberhalb des Sanatoriums von Weilmünster ? Dieser mehrere Jahrzehnte alte, merkwürdige Baum zeichnet sich dadurch aus, dass er, nachdem sein Stamm zuerst mehr oder weniger vertikal in die Höhe gewachsen war, die Wuchsrichtung seiner gesamten Krone nach Osten zur Seite hin verdrehte und dann begann, seinen nun zum Seitenast verwandelten Hauptstamm wieder in Richtung des Wurzelgrundes zurückwachsen zu lassen, so dass dessen Äste heute kurz davor stehen, den Erdboden im Abstand von wenigen Metern neben dem Wurzelpunkt wieder zu berühren, so als wolle die Triebspitze dort neu in den Boden einwachsen und somit einen zweiten Hauptstamm begründen.


Die Weilmünsterer Kiefer am Dietenhäuser Berg Anfang September 2018
Fotografie : Peter Zanger / Foto CID Independent Internet Image Agency




Im Naturraum des Taunus ist Torsionswuchs von Bäumen ein eher seltenes Phänomen. Bei Nadelbäumen können aber doch bisweilen aberrante Wuchsformen von Baumteilen insbesondere von Spitzen der Hauptachsen bereits ausgewachsener Bäume beobachtet werden. Einige Beispiele die von Foto CID bei naturkundlichen Exkursionen seit 2002 registriert wurden, sind hier im Folgenden wiedergegeben :

Zwei Lärchen mit regressivem Wipfel-Wuchs am Utenhof bei Heinzenberg

Fichte mit lateral abgeknickt wachsender Stammspitze bei Emmershausen

Nadelbaum mit seitlich weiterwachsender Stammspitze am Kastanien-Dreieck am Ende der Lichtertalstrasse bei Dietenhausen

Würden Bäume autonom denken und handeln so läge die Interpretation nahe, die von der Norm abweichende Wuchsform sei ein kommunikativer Akt mittels welchem sie auf eine besondere Situation oder Kondition ihres Wuchsortes hinzuweisen versuchen würden und da sie nicht zur selbständigen Fortbewegung oder zu Lautäusserungen fähig sind, um so auf den störenden Zustand aufmerksam zu machen, wählten sie die bildliche Sprache der Einnahme einer auffälligen und verbogenen Körperhaltung, die so für jedermann sichtbar auf etwas Aussergewöhnliches hinweisen soll. Dort wo sich die Grenzen von naturwissenschaftlichen Forschungen, Mystizismus, Religion und Parapsychologie überschneiden mögen solche Interpretation auch ausreichender Anlass für tiefergehende historische Studien zur Geschichte der jeweiligen Pflanzenstandorte bzw. deren näherer Umgebung zu werden. Im Rahmen der vorliegenden Studie soll es aber nicht unterlassen werden, auch traditionelle naturwissenschaftliche Erklärungsmodelle für das betrachtete Wuchsphänomen der Weilmünsterer Kiefer vorzustellen.



Habitus der Weilmünsterer Torsionskiefer am 26. Januar 2006


Der weitaus häufigste Grund für vom Naturzustand bzw. den vorgegebenen genetischen Informationen abweichenden Wuchsformen bei Gehölzen sind Eingriffe des Menschen bzw. dessen gärtnerische Gestaltungsversuche der Erscheinungsform einer Pflanze. Bekannteste Beispiele mögen das Spalierobst, also zur Erleichterung der Fruchternte mittels Schnitt- und Bindetechnik geformte Obstbäume oder verbuschende Heckengehölze von pflanzlichen Grundstückseinfriedungen sein, deren ehemalige Haupttriebspitzen gekappt wurden, was in der Folge zum Aufwärtswachstum zahlreicher Seitentriebe führte welche dann regelmässig zusammenwachsen und ohne grossen Aufwand gepflegt bzw. geschnitten werden können. Neben gärtnerischen Manipulationen des "normalen" Pflanzenwuchses steht die Wirkung tierischer Gestaltungstätigkeit, welche in Form des sogenannten "Verbisses" beim Abweiden der jungen Triebe von Bäumen sichtbar wird, die dann die Ausbildung von Büschen oder unregelmässigen Stammformen zur Folge hat. Zwar wächst die Kiefer in relativer Nähe zum Standort des ehemaligen Schwimmbades des Weilmünsterer Sanatoriums und am Rande eines Weges, der sie von einer landwirtschaftlich genutzten Fläche trennt, so dass sie durchaus wuchsdeterminierenden anthropogenen Einflüssen ausgesetzt gewesen sein könnte, doch hätte die starke Biegung des Hauptstammes zurück zur Erde vermutlich nur durch ein über viele Jahre hinweg andauerndes, künstliches Biegen und Herabziehen der oberen Hälfte des Stammes mittels einer festen Verankerung am Boden bewirkt werden können. Solch eine Vorrichtung konnte allerdings bei der näheren Untersuchung des Baumes im September 2018 nicht gefunden werden.



Die Weilmünsterer Kiefer am 7. September 2018


Neben anthropogenen und zoogenen Einflüssen und den bereits Eingangs erwähnten TROPISMEN kommen desweiteren Phytopathogene, also Bakterien oder Pilze als Auslöser von Wuchsdeformationen des Pflanzenkörpers in Frage. Manche dieser Phytopathogene sind dafür bekannt, dass ihr Metabolismus Stoffwechselprodukte erzeugt, die Phytohormonen ähneln oder mit diesen interagieren, so dass dadurch Änderungen im Cytokinin gesteuerten Wachstums- und Orientierungsverhalten der befallenen Pflanze bewirkt werden könnten. Theoretisch könnte durch einen solchen Bakterien- oder Pilzbefall die  auf der Produktion des Pflanzenhormones Auxin in der ursprünglichen Triebspitze beruhende die apikale Dominanz der aufstrebenden Wuchsachse  unterdrückt worden sein, mit der Folge, dass der obere Teil des Baumstammes begann, seine Wuchsrichtung hin zum Untergrund umzukehren. Stellt man sich nun vor, dass auf Grund der Attacke der Phytopathogene die Pflanze im befallenen Abschnitt begann, Hormone zu produzieren, die das in das Erdinnerergerichtete Wurzelwachstum steuern und die ursprüngliche Orientierung der Wuchsrichtung hin zum Sonnenlicht umkehrten indem sie die photophoben und geotropen Sensoren der Pflanze aktivierten, also die Dunkelheit suchenden und sich an der Gravitationskraft orientierenden Regulatoren des Pflanzenwachstums, dann wäre die U-förmige und wieder nach unten gerichtete Biegung des Baumstammes durchaus so erklärbar. 

Träfe diese Theorie zu, dann müssten die Astspitzen der Kiefer bei Berührung mit dem Erdboden dort neuerlich Wurzeln ausbilden. Das sie dies bisher noch nicht getan haben liegt daran, dass sie sich noch wenige Zentimeter oberhalb des Erdbodens befinden. Durch die experimentelle Herstellung des Bodenkontaktes z.B. durch Anlage eines "Hochbeetes" unter den tiefsthängendsten Astspitzen wäre aber eine solche Theorie nachprüfbar. Doch weist ein weiterer Indikator bereits jetzt schon darauf hin, dass die wieder nach Unten wachsende Sprossachse bereits vor einigen Jahren mit dem Ausbilden von neuen Wurzeln begonnen hatte, allerdings noch in der Luft und in der Höhe von etwa 1-2 Metern über dem Erdboden. Auch dies könnte direkte Folge eines Bakterienbefalles sein.

Betrachtet man den Verlauf des gesamten Baumstammes und seiner Äste von Unten bzw. vom Erdboden aufwärts blickend aus, dann ist deutlich erkennbar, dass am Ende des eigentlichen, ehemaligen Hauptstammes ein auffälliges, dichtes, struppiges und Reiserbesen-artiges Astwachstum einsetzt. Auf der nachfolgenden Panorama-Kartierung des Stammverlaufes ist dies im linken Bildsektor etwa ab der Bildmitte bis hin zum linken Bildrand deutlich erkennbar. Dort bilden die Äste ab einer Höhe von circa 2 Metern bis fast zu Erdboden einen sogenannten "HEXENBESEN".



Hexenbesen-Phänomen an den ehemaligen Kronenästen der Weilmünsterer Kiefer, die nun in Richtung Erdboden wachsen und diesen fast berühren. Der Hexenbesen ist als deutlich dichterer, struppiger Astauswuchs in der linken Bildhälfte zwischen Bildmitte und mittlerem Bildrand erkennbar.



Nach derzeitigem Kenntnisstand wäre es noch zu verallgemeinernd, das Phänomen der Hexenbesen an Bäumen pauschal als durch Bakterien-Stoffwechselprodukte, die das Hormonsystem der Pflanze durcheinanderbringen, induziertes, "irrtümliches" Wurzelwachstum an oberidischen Pflanzenteilen zu definieren. Doch werden als Entstehungsursachen mancher der besenförmigen Astquirle an Gehölzen phytopathogene Pilze u
nd Parasiten in Betracht gezogen. Diese bewirken vermutlich eine Störung in der hormonellen Regulierung des Austreibens der Knospen, von denen im Normalfall nur ganz wenige oberiridische überhaupt austreiben und Seitentriebe bilden. Doch ist die Zahl der von der Pflanze tatsächlich gebildeten Knospungspunkte unendlich viel grösser, aber normalerweise erhalten diese sogenannten "ruhenden Reserve-Knospen" oder "schlafenden Augen" nur dann über das Phytohormonsystem das Signal zum Austreiben, wenn die bereits wachsenden Seitentriebe gestört oder beschädigt werden, zum Beispiel nach aussergewöhnlichen Trockenphasen, Verletzungen oder Spätfrösten.  Fallen so die in erfrorenen, vertrockneten oder abgerissenen Triebspitzen produzierten Phytohormone aus, aktiviert die Pflanze in einem bestimmten Moment der autonomen Selbst-Wiederherstellung die schlafenden Augen und bildet aus ihnen neue Knospen. So überleben höhere Pflanzen auch an Extremstandorten oder nach extremen Klima-Ausnahmesituation.

Als Signalträger für das Austreiben von ruhenden Knospen werden Cytokinine betrachtet. Diese Cytokinine wirken dem Auxin IAA (Indol-3-Essigsäure / Heteroauxin), das die apikale Dominanz reguliert, entgegen und beeinflussen das Wurzelwachstum. Sie fördern an intakten Pflanzen das Austreiben von Seitenknospen. Cytokinine werden nun aber auch unter anderem vom Bakterium Corynebacterium fascians produziert, das an befallenen Pflanzen das massenhafte Austreiben von Seitenknospen bewirken soll, so dass auf dieser Spur ein Weg zur Erklärung der Hexenbesen als irrtümlicher Luftwurzelbildung in Folge phytophatogenen Bakterienbefalles führen könnte.



Die Weilmünsterer Kiefer am 7. September 2018


Wie immer im Leben ist aber selten ein einzelner Faktor Auslöser einer komplexen Auswirkung in einem von zusammenwirkenden Lebensprozessen gesteuerten und gekennzeichneten Wirkungssystem. Viele Effekte beispielsweise eines lokalen Bakterienbefalles kann ein Baum mit den Abwehrmechnismen seines Organismus so ausgleichen, dass sein Wachstum nicht grundsätzlich beeinträchtigt wird. So tragen viele gesund wachsende Bäume an einzelnen Ästen einen Hexenbesen, ohne dass dies aber dazu führen würde, dass der gesamte Baumstamm seine Wuchsrichtung "nach Unten hin" umkehren würde. Im Falle der Weilmünsterer Kiefer ist also das Zusammenspiel mehrerer, die Pflanzenbewegung und Wuchsrichtung des Baumes beeinflussender Faktoren zu vermuten oder aber ein bisher gänzlich unbekannter phytopathogener, phytohormoneller oder Tropismen-induzierter Prozess im Gange. 




Somit stellt sich die Frage, welche der äusseren Einflussfaktoren des Pflanzenwachstums, also welche "Tropismen" als Auslöser für die U-förmige Stammform der Weilmünsterer Kiefer in Frage kommen. Als erstes wäre hier an eine Störung des positiven Phototropismus zu denken, also an eine Umkehrung der Wuchsorientierung hin zur optimalen Lichtversorgung, der Voraussetzung für die Gewinnung von Pflanzenenergie aus Photosyntheseprodukten. Negativ phototrop, also lichtabgewendet und Dunkelheit suchend verhalten sich Wurzelbildungsregionen der Pflanze - was komplementär zur vorangehenden Theorie der Hexenbesen als irrtümliche Luftwurzeln wäre. Der Skototropismus, also das vorübergehende Wachsen hin auf den dunkelsten Punkt am Horizont zu, ist von Lianen bekannt, die so zuerst in Richtung auf grössere Baumstämme in ihrer Umgebung wachsen bevor sie dann, nach einem Umschalten ihrer Orientierungsmechanismen, an den Stämmen in die Höhe zur Sonne hin weiterwachsen. Regulatorische Steuerungsmechanismen dieser Pflanzenbewegung sind bisher noch unbekannt. Als dritter zu vermutender Haupt-Faktor wäre eine Störung des negativen Geo- oder Gravitropismus zu vermuten, also der autonomen Einregelung der Pflanzenwuchsachse im Verhältnis zur Schwerkraft der Erde. Als Sensoren für die Schwerkraft werden stärkehaltige Bestandteile der kleinsten Pflanzenkompartimente vermutet, die sogenannten Amyloplasten, die bei Bewegungen der Pflanze jeweils "nach Unten" sinken und dort Druck auf das endoplasmatische Reticulum ausüben, dem eine sensorische Funktion bei der Erkennung der jeweiligen Lage der Pflanze zugeschrieben wird. Eine wie auch immer geartete Störung des Licht- oder  Schwerkraft-Erkennungssystemes der Pflanze könnte auch Grund für eine Umkehrung der Wuchsrichtung sein - ein hypothetisches "phytoneuronales Down-Syndrom" also.


Stamm-Mitte der Weilmünsterer Kiefer an welcher sich die aufwärts wachsende Spossachse in den Gegenwuchsrichtung umkehrt



Nicht auszuschliessen wären aber auch chemische und elektrische oder elektromagnetische Störungen, auch wenn diese Hypothese weniger wahrscheinlich wäre, denn vermutlich wären auch andere Pflanzen in der Umgebung der Kiefer von diesen Faktoren in ihrer Entwicklung beeinflusst worden. Solches war aber bei der jüngsten Untersuchung des Baumes nicht offensichtlich erkennbar. Einzige potentiell in Frage kommende Störquelle die Funkwellen erzeugt wäre ein Mobilkommunikationsmast auf dem Bieler Berg, der wie die Kiefer seit mehreren Jahrzehnten existiert und in direkter Westachse zu dem Baum auf dem nächstfolgenden Höhenzug liegt. Die Baumspitze der Kiefer wendet sich exakt in die Gegenrichtung der potentiellen, elektronischen Signalquelle. Doch ist bisher nicht bekannt, dass normale Telekommunikationssignale gravierende Auswirkungen auf die Wachstumsdynamik von Bäumen ausüben könnten. 



Telekommunikationsinstallation auf dem der Weilmünsterer Kiefer benachbarten Höhenzug Bieler Berg


Chemotropismus wird in Zusammenwirken mit dem konstanten See-Wind an der schottischen Ostküste als Grund für den regelmässigen Torsionswuchs von Kiefern vermutet, die sich gleichmässig zur dem Ozean abgewandten Himmelsrichtung hin wenden und deren Äste fast auf dem Boden liegend weiterwachsen. Möglicherweise reagieren die Bäume mit diesem Ausweichversuch auf den erhöhten Salzgehalt in der Luft und auf den beständigen, die Wuchsrichtung formenden Druck der Windböen. Bei der Weilmünsterer Kiefer auf dem Kamm des Dietenhäuser Berghanges oberhalb des Sanatoriums könnte der Einfluss permanenten, starken Westwindes zum Zeitpunkt des Erreichens der Wuchshöhe von 3 Metern eine Torsion der Krone in Richtung Osten bewirkt haben, doch ist unbekannt, ob im betreffenden Zeitraum, vermutlich zwischen 1960 und 1990, grundsätzlich andere Windverhältnisse am Standort existiert haben, als dies heute der Fall ist, denn die heutige vorherrschende Windsituation würde eine vergleichbare Deformation wohl kaum bewirken können.   



Old Scots Pine Trees bei Yellowcraig an der Schottischen Ostküste. Die Wuchsform der Bäume soll durch permanente Windböen vom Ozean und starken Salzgehalt der Luft verursacht worden sein.
Bildquelle : Blog Coastrider


4 weitere Pflanzenbewegungen (Nastien) werden als Ursachen für Krümmungen von Pflanzenorganen zusammengefasst, die allesamt auf Grund von einseitigem stärkerem Längenwachstum des Pflanzengewebes hervorgerufen werden. Es handelt sich dabei um die Hyponastie (einseitig stärkeres Wachstum einer Pflanzenorgan-Unterseite), Epinastie (einseitig stärkeres Wachstum einer Pflanzenorgan-Unterseite), Paranastie (einseitig stärkeres Wachstum einer seitlichen Flanke der Pflanze) und die Diplonastie (exzentrisches Dickenwachstum von Sprossen an 2 gegenüberliegenden Flanken). Im vorliegenden Fall entsteht zuerst der Eindruck, das Pflanzengewebe der westlichen Stammseite des Baumes habe ab einer Höhe von  ca. 3 Metern plötzlich begonnen, schneller bzw. länger zu wachsen und an Grösse zuzunehmen, so dass es sich über das verholzende Gewebe der östlichen Baumseite hinweggebogen und so die extreme Stamm-Krümmung verursacht habe. Somit würde bei der Weilmünsterer Kiefer eine Paranastie vorliegen, wobei die Ursachen dafür noch im Dunkeln liegen. 


Könnte eine einseitig stärkere Nährstoffversorgung Ursache für die einseitig verstärkte Längenzunahme der westlichen Stammflanke sein ? Dann wäre die Weilmünsterer Kiefer möglicherweise ein Halb-Bonsai-Baum, dessen die östliche Stammhälfte versorgenden Nährstoffleitungssysteme bzw. die damit verknüpfte Wurzelhälfte verkümmert sind, während die westlichen Wurzeln und Leiterbahnen weiterhin den normalen Nährstofftransport gewährleisten, so dass es zum so unterschiedlichen Längenwachstum der beiden Stammhälften kam ? Die halbseitige Beeinträchtigung von Nährstoffversorgung und Nährstofftransport könnte beispielsweise durch Verletzungen der östlichen Wurzelungsregion entstanden sein oder aber auch dadurch, dass der geologische Untergrund einseitig die normale Wurzelsystemausbildung auf der Ostseite des Baumes blockierte und verhinderte oder aber dort im Boden physikalisch-chemische Bedingungen vorherrschen, die das reduzierte Wachstum der einen Stammhälfte im Verhältnis zur Anderen bedingen. Solcherlei könnte theoretisch eintreten, wenn die Kiefer exakt zur Hälfte über einen Felsblock wächst, der die Entwicklung einer Hälfte seines gesamten Wurzelsystemes verhindert, was ein verstärktes Wachstum des sich frei entfalten könnenden Wurzelsystemes zur Folge hätte. So könnte es zu einer einseitigen Verteilung der Nährstoffversorgung innerhalb des Baumes und damit zu einseitg verstärktem Wachstum kommen.

Dies wäre ein durchaus plausibles Erklärungsmodell für den einseitigen Torsionswuchs, dessen Verifizierung die Weilmünsterer Kiefer allerdings das Leben kosten würde, denn zum Nachweis des hypothetischen Felsblockes im Untergrund des Baumes und des dadurch einseitig beeinträchtigten Wurzelsystemes müsste der Baum ausgegraben werden. Allerdings würde dieses Erklärungsmodell nicht das merkwürdige Hexenbesen-Phänomen der sich zum Boden hinabneigenden Kronenäste erklären. Auch die nähere Betrachtung des Hauptstammes an der Entstehungsregion der U-förmigen Wuchsrichtungsänderung gibt weitere Rätsel auf, denn dort weisen auch die Seitenäste weitere, starke Krümmungen und Wuchsrichtungsänderungen auf so dass man zuerst glauben könnte, die Spitze und Seitenäste der Kiefer seien dort vor 30-40 Jahren heruntergebunden oder verknotet worden und hätten sich aus dieser misslichen Lage nicht selbst wieder befreien können.  



Torsionswuchs der Stamm-Mitte der Weilmünsterer Kiefer im Sektor der stärksten Stammkrümmung


    
Liegt also doch ein anthropogener Eingriff in das Pflanzenwachstum als Hauptursache der einsetzenden und andauernden Stammkrümmung der Weilmünsterer Kiefer vor ? Solch ein Abbinden des Baumes müsste schätzungsweise gegen Ende der 70er/80er Jahre stattgefunden haben, also in einem Zeitraum, in welchem das etwa 25 Meter östlich der Kiefer befindliche Schwimmbad des Sanatoriums Weilmünster noch im Betrieb war, bevor es dann geschlossen und verfüllt wurde. Eine Manipulation des nahestehenden Solitärbaumes könnte im Rahmen dieser Bauarbeiten stattgefunden haben oder aber auch von Gästen und Besuchern des Bades erzeugt worden sein, die an der Kiefer herumspielten oder diese erkletterten, zum Beispiel um von dort aus in das Innere des Schwimmbadgeländes zu blicken. Eine solche Theorie ist heute kaum noch nachvollziehbar, denn das eigentliche Schwimmbad ist mittlerweile unsichtbar verschwunden, zugeschüttet und gänzlich von Gebüschen umwuchert. Nur noch wenige Details wie etwa Reste der verrosteten Metallumzäunung, das Eingangstor zum Bad und ein Hinweisschild mit der Vorgabe, Baden und Betreten sei nur Mitarbeitern des Krankenhauses erlaubt, existieren noch von dieser Einrichtung, welche letztmals auf der Topographischen Karte für Weilmünster im Massstab 1 : 25.000 von 1966 eingezeichnet wurde.



Schild am Tor des Einganges zum ehemaligen Schwimmbad des Sanatoriums in der unmittelbaren Nachbarschaft der Kiefer im Jahre 2008. Der Hinweis "Baden und Benutzung nur für Bedienstete des PKH" ist heute kaum noch leserlich.




Zwar klingt auch diese Erklärungs-Version plausibel und könnte der Hexenbesenwuchs der Äste durch eine anthropogen erzeugte Verletzung des Stammes bzw. der Rinde, welche zuerst das Eindringen von Bakterien ermöglichte, die dann mit ihren Stoffwechselprodukten die Wucherung der schlafenden Augen-Knospen des Baumes im betroffenen Kronenbereich auslösten, erklärt werden. Unklar bleibt allerdings dabei, warum in den folgenden Jahrzehnten die Abwärtsrichtung des Stammlängenzuwachses anhielt, denn auf Grund gärtnerischer Eingriffe zum Seitenwuchs gezwungene, heruntergebundene Äste  würden vermutlich nach einigen Jahren und in einigem Abstand von der Torsionsstelle wieder beginnen, aufwärts zu wachsen.



Die Stammtorsion der Weilmünsterer Kiefer in Gesamtansicht


Für die vollständige Betrachtung des Untersuchungsthemas bleibt zur Vollendung dieser Studie nun noch die Prüfung der Frage, ob ein plötzliches Ausbilden einer sogenannten "Trauerform" vorliegt. Trauerformen sind in der Natur von Rotbuchen, Birken, Eschen und Weiden bekannt. Bei einer Trauer- oder Pendula-Form kommt es zu gestauchtem Wachstum der Hauptachse und verstärktem Längenwachstum bei gleichzeitigem reduzierten Dickenwachstum der Seitenäste, so dass diese Überlänge bei geringer Stärke des Astdurchmessers erreichen. In Konsequenz hängen die Äste dieser Baumformen herab. Besonders bekannt sind dabei die Trauerweiden und die sogenannten Hängebirken während Rotbuchen zumeist in Folge gärtnerischer Eingriffe in Schlossparks Pendula-Wuchs ausbilden. Ursache der Bildung von Trauerformen sind vermutlich Wasser- und Nährstoffversorgungs bedingte Unterschiede im Pflanzenstoffwechsel und Phytohormonhaushalt, die Pendula-Form ist in der Natur also vermutlich Standortabhängig. Durch gärtnerische und züchterische Weiterverwendung solcher Wuchsformen kann die Ausbildung von Trauerformen aber auch verstärkt werden.

Im Falle der Weilmünsterer Kiefer ist die Stammkrümmung einseitig und die nicht nach Unten wachsenden Äste haben aufwärts strebende Seitentriebe, so dass dieser Baum weder eine Hänge- noch eine Trauer-Form darstellt, die bei Nadelbäumen so auch noch nicht bekannt wäre.

Als letzte Version bleibt somit die Phantasie, die Kiefer sei eine gezielte, forsttechnische oder zimmermännische Mutation zur Produktion von gebogenen Balken. Hohle Balken und gebogene Balken haben insbesondere im Kunsthandwerk eine nicht zu unterschätzende Bedeutung. Doch ist dieser Berufszweig im Ort gar nicht vertreten.


Edition CID Institut Naturstudien
26. September 2018
Dipl. Biol. Peter Ulrich Zanger
Contact us at www.cid-institut-masthead.blogspot.com






Kommentare

Beliebte Posts